Mathematik der Seele.
Helga Philipps Ambivalenzen im Konkreten
und ihr Bezug zur „Neuen Geometrie“

Brigitte Borchhardt-Birbaumer

„Eine Struktur ist wie eine Brücke von nirgendwo“  John Cage 19591

Helga Philipp gilt heute zu Recht als Pionierin konkreter Kunst und Op Art in Österreich – sie hat mit ihrem Werk die Felder konstruktiver Tendenzen vor allem in Europa, die konkreten und strukturalistischen Tendenzen in Wien, später auch die Minimal-Art und Konzeptkunst Amerikas ausgelotet und konsequent untersucht. Außerdem hat sie ab 1965 durch ihre Lehre an der „Angewandten“ Diskus­sionsgrundlagen für zwei Künstlergenerationen aufbereitet und löste damit die Initialzündung der parallel zu den „Neuen Wilden“ etablierten, international tätigen „Neuen Geometrie“ mit aus.
Mit „brisanten Elementarteilchen“ wird auch für 2010 eine neue Konjunktur konkreter Kunst für die Museen und Ausstellungen in Deutschland verkündet.2 Die längst ausständige Personale liegt also in einem anhaltenden Trend, der vor allem die frühen Zeiten der Op Art und kinetischen Kunst für die aktuelle künstlerische Forschung ausleuchtet.3 Was anfangs durch Aussparen von Inhalt und jeglicher Symbolik in Konzentration auf die formale Struktur, aber auch die Materialästhetik einer strengen Logik folgte, ja sogar kurz mit der maschinellen Systematik des Computers liebäugelte, erwies sich mit Beginn der Post- oder Transmoderne wieder der Zahlenmystik bis zu pythagoreischen Anfängen verbunden. In der Nachkriegs­zeit herrschte jedoch in der Verbindung von Wissenschaft und konkreter Kunst eine streng positivistische Auffassung, die noch mit dem Funktionalismus der internationalen Architektur korrespondierte.4
Letztlich gibt es in Österreich Rückgriffe bis in die Zeit der Aufklärung mit dem an der Mathematik orientierten Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz und dem Vorläufer seiner Monadenlehre, Baruch Spinoza – auch wenn barock-konkret paradox klingt.5 In einer Art zweiter Aufklärung war die Verbesserung der Welt mithilfe rationaler Kunstmittel, einer bewussten Beobachtung des Materials, von Form und Farbe in Fläche und Raum angestrebt. Dies stand in Verbindung zum Spieltrieb, generativer Methode der neuen Computertechnik und der Vorstellung aus der Systemtheorie, Kunst müsse sich nach eigenen Gesetzen entwickeln. Die Zu­versicht der Konkreten, eine neue, breitenwirksame, „kühle“ Ästhetik einführen zu können, wandelte sich erst um 1980 zur Erkenntnis, dass ein Höchstmaß an Ordnung auch ein Höchstmaß an Konfusion mit sich bringt. Der Weg zurück zur Ambivalenz oder sogar Ambiguität wurde in der Ausstellung von François Morellet „BarocKonkret“ 1995 im Heiligenkreuzerhof von einem der Protagonisten der Szene deutlich gemacht.6 Dem Glauben an die Maschine, das Serielle und einer damit verbundenen Aufweichung des hierarchisierten Kunstmarkts für breite Kundenschichten folgte ein Rekurs auf die Natur und die Innovation des Künstlers, nachdem die dramatische Geste der Handschrift verworfen worden war.7
Schon Herbert Tasquils „Vorklasse“ war dem Grundstudium im „Vorkurs“ Johan­nes Ittens am Bauhaus in einigen Punkten pädagogisch nicht unähnlich.8 An der „Angewandten“ versuchten auch andere Professoren an die 1938 vertriebenen Denk- und Lehrtraditionen anzuknüpfen – Oswald Oberhubers Bemühungen um 1974, Joseph Beuys als Lehrer mit ganzheitlichem Konzept zu gewinnen, sind da nur die logische Folge. Helga Philipp hat sich als Assistentin Tasquils neben dem Musiker und Metallbildhauer Loys Egg mit Fokus auf die Pädagogik und Lehrpro­gramm-Anregungen aus dem Bauhaus oder von Josef Albers, mit den damals hochaktuellen Debatten von Kybernetik, der Informationstheorie eines Abraham A. Moles, Max Bense (oder der „Ars mathematica“ eines Alfréd Rényi) und Computer­kunst weit über Tasquils Thesen hinaus bewegt, wie ihre Bibliothek verrät.9
Wir befinden uns also in der Parallelaktion einer Objektivierung des künstlerischen Werks mit gegenstandsloser Abstraktion als Weltsprache (des dominanten Westens) und der formalistischen Ausrichtung der 2. Wiener Schule der Kunstge­schichte nach 1945.10 Wissenschaft und Kunst folgten diesem Dialog einer sozial erzieherischen Ausrichtung aufklärerischen und demokratischen Zuschnitts konstruktiver Gestaltungswelten.11 1974 verwendet Thomas Zaunschirm aber bereits für den Katalogtext der Ausstellung von Werken Philipps in der Grazer Neuen Galerie den Begriff „Kosmologie“ als Beschreibung für ihre Kombinatorik einzelner „Urelemente“.12 Werner Hofmann machte nach der Ausstellung „kinetika“ 1967 im Wiener Museum des 20. Jahrhunderts, bei der Philipp vertreten war, im Jahr 1976 mit dem Text „Ars combinatoria“ dem Glauben ein Ende, dass die ­gegenstandslose Abstraktion in zwei Gegensätze – Klecks und Diagramm oder Formlosigkeit und geometrische Form, also Informel und Neo-Geo – zerfällt.13 Trotzdem hat sich die etwa von Kenneth Clark in den fünfziger Jahren konstruierte Spaltung in vieldeutigen und wirren, psychisch gelenkten Gesten des Informel contra eindeutiges geometrisch-mathematisches System der Konkreten lange in den Köpfen der Künstler wie der Kunstwissenschaft gehalten.14

„Wiener Gruppe“ und Grenzauflösungen
Wenn also über Helga Philipp gesagt wird, sie hätte sich die Harmonie der messbaren Geometrie für ihre Kunst gewählt, um ihr inneres Chaos im Leben zu ordnen, wird übersehen, dass diese Polarität zwei Gegensätze eines Denkens, wie schon von Itten angedacht, vereint und die Ambivalenz paradigmatisch für die Moderne ist wie die Verbindung von Kunst und Leben. In Philipps Werkserien zeigt sich daher eine Vorliebe für die fernöstliche Philosophie der Zweiheit in der Einheit und andere dialogische bis polyphone Konzepte. Aktionismus, vor allem das ­intersubjektive Happening, und die begehbaren Räume der Kinetik, auch die Klang­räume Bernhard Leitners, der ebenso an der Angewandten lehrte, liefen als Vorschläge für eine neue Ästhetik nicht zufällig parallel. Der besondere Innovations­schub für beide Stränge einer Richtung kam in den sechziger Jahren in Wien von der konkreten Poesie der „Wiener Gruppe“.
Philipp war über die theoretischen Kunstdiskussionen immer gut informiert – es gehörte zu ihrem eleganten Stil, intellektuell gegen alte Muster anzukämpfen. Ver­stärkt durch ihre Lehre ab 1965 an der „Angewandten“ muss sie früh auf die Tradition des „Wiener Kinetismus“ wie auf Ittens Bezug zur Jugendkunstklasse Franz Cizeks in diesem Haus gestoßen sein.15 Durch ihre Freundschaft mit der Leiterin des Archivs, Erika Patka, waren ihr die Werke einer Erika Giovanna Klien, von My Ullmann oder Hansi Reismayer aus den zwanziger Jahren sofort nach deren Ankauf zugänglich. Sie sprach allerdings nie von einem Anknüpfen an diese erste frauendominierte Avantgarde.16 Da die Künstlerin schon 1968 mit Marc Adrian und Richard Kriesche in der Galerie nächst St. Stephan ausstellte und im gleichen Jahr mit Kriesche und Jorrit Tornquist die kurzlebige „Gruppa A ustria“ anlässlich einer Ausstellung im „forum stadtpark“ Graz gründete, war ihr feministisches Engage­ment nicht in Richtung einer damals diskutierten „weiblichen Ästhetik“, sondern der Auflösung von Geschlechtergrenzen durch die Kunst orientiert. Ganz im Gegen­satz zu ihrer später in Amerika in Woman’s Liberation kämpfenden Kollegin Kiki Kogelnik, die in früher konstruktiver Arbeitsphase auch von Monsignore Otto Mauer gefördert wurde, hat sich Philipp mit der Op Art nämlich um ein völlig neues, heute aktuelles, demokratisches Künstlerbild bemüht, das bereits die Auflösung der Ge­schlechtergrenzen (Transgender) im Blickwinkel hatte.
Die Op Art und die dynamische Kinetik propagierten – zusätzlich zur Verbin­dung mit der neuen Technik – mit dem bereits erwähnten pädagogischen Konzept die radikale Erneuerung der Gesellschaft durch die Kunst.17 Dabei waren statt Hand­schrift, Name des Künstlers oder der Künstlerin im Teamwork erstellte Werke wesentlich, an denen der Betrachter aktiv teilhaben sollte.18 Dies war eine weitere Grenze zwischen Interpret und Rezipient, die überschritten und aufgelöst werden sollte. Ende der neunziger Jahre publizierte Philipp mit Patka ihr frühes Statement dazu:„Unverändert ist mein Anliegen das des Dialogs Objekt-Betrachter. Ist es doch zuerst mein Dialog mit dem Objekt, zuerst mein Rhythmus als Herstellender und Betrachter, zuerst meine Bewegung und Körperlichkeit, die die Dimensionen bestimmen und ordnen, zuerst meine Beweglichkeit und Sinnlichkeit, die Formen­felder umspringen lassen, die raumillusionistisch verändern, zuerst meine mentale Wahrnehmung, die den Gesamteindruck über die rationalen Verfahren der Her­stellung hinaus durch ständige Rückkoppelung verantwortet. … Ich erwarte (vom Betrachter), dass er durch seinen Bezug, seine Bewegung, die Bereitschaft, seine Wahrnehmung zu verändern, sein Zulassen von Irritation der Grundbefindlichkeit, Verantwortung übernimmt für die Qualität des Geschehens.“19
Das erinnert an soziokulturelle Manifeste zu einer „perzeptuellen Gymnastik des Blicks“ von Victor Va­sarely, den Gruppen GRAV, Zero, Gruppo N oder MID – nach der documenta 4 in Kassel 1968 bildeten sich in mehreren Städten des Westens Op-Art-Zen­tren. Wien war zwar nicht stark im Zusammen­schluss ano­nymer Grup­penarbeiter für diese Ideen, hatte aber mit Philipp, Kogelnik, Kriesche, Adrian, Hildegard Joos, Brigitta Malche oder dem Computer­künstler Kurt Ingerl zahlreiche Begabungen, die sich allerdings nur zu einem kleinen Prozentsatz vorübergehend 1976 in den „Exakten Tendenzen“ um das Kunsttheoretiker- und Sammlerpaar Gertraud und Dieter Bogner in Schloss Buchberg einen konnten.20
Unter den Genannten ist aber nur Philipp direkt mit den Protagonisten der ab den achtziger Jahren von Wien ausgehenden „Neuen Geometrie“ wie Gerwald Rockenschaub, Brigitte Kowanz, Herwig Kempinger oder dem in die künstlerische Forschung gewechselten Martin Beck in diskursive Berührung gekommen. Ihre Rolle als Anregerin dieser Richtung parallel zur „neuen wilden“ Malerei hebt auch Peter Weibel in seinem Katalogbeitrag besonders hervor. Neben den gedanklichen Bindungen ans Bauhaus war die Vorlesung „Formenlehre“ (später: „Morphologie bildender Kunst“) Tasquils um das Zusammensehen von Sprache, Tönen und abstrakten Formen aus der Moderne nach 1910 bemüht. Neben Ludwig Wittgen­stein spielte auch der „Ulysses“ von James Joyce und die Sicht des Lehrers als „Erwecker neuer Kräfte“ aus dem Geist des Expressio­nismus – wie schon bei Itten oder Cizek – eine große Rolle. Auch Otto Mauer war noch von diesem Zirkelschluss zur göttlichen Geometrie und dem alten Wunsch einer vernünftigen (und von Greenberg männlich konnotierten) Grammatik zur Ordnung der Natur in Kreis, Dreieck, Kreuz und Quadrat beseelt.21

Von der Skulptur zum kinetischen Objekt zur Malerei als Skulptur
In der von uns immer vielschichtig und nie als Ganzes begreifbaren Gegenwart fiel Philipps Blick schon 1958 auf das Werk des venezolanischen Op-Art-Künstlers Jesús Rafael Soto (1923 – 2005).22 Diese zündende Begegnung mit Sotos Werk fand auf der Biennale in Venedig statt und löste sie von jeglichen Resten figuralen Den­kens der Anfangsjahre, aber auch von der Blockauffassung abstrakter Plastiken. Sie hatte sich zuerst durch ihren Lehrer, den Bildhauer Hans Knesl, der Begeisterung für die klassische Moderne eines Constantin Brancusi angeschlossen, wie ihre Diplomarbeit aus grauem Mühldorfer Marmor (Untertitel: „Rundplastik für die Europaschule in Linz“, 1961) verdeutlicht.
Ein weiterer intellektueller Schub war der auch über ihre Freundinnen in mehreren Wiener Lokalen wie dem Café Hawelka geschlossene Kontakt zur konkreten Poesie der „Wiener Gruppe“ – vor allem zu Hans Carl Artmann, der Philipp nach Sichtung ihrer Op-Art-Kästen als „eine von uns“ deklarierte.23 Es ist auch kein Zufall, dass der Experimental­filmer Kurt Kren, der sich stark zur chaotischen Triebhaftigkeit des Aktionismus hingezogen fühlte, in seinem strukturalsten Film im Sinne der von Peter Kubelka begründeten Wiener Schule des formalen Films ein frühes kinetisches Bild­objekt von Helga Philipp zum Anstoß für formale Zeitstrukturen wählte. „11/65 Bild Helga Philipp“ regte sie rückwirkend zu einem „konzeptuellen Minima­lismus“ und „methodischen Inventionismus“ in Sachen optischer Phänomene an.24 Peter Weibel schreibt beiden die wichtige Beschäftigung mit Opseografie zu, die über reine Kinema­tografie hinaus geht.25
Die Verwendung von Spiegeln, Millimeterpapier und durchsichtigem Archi­tekten-Transparentpapier begüns­tigt in den Schichtgrafiken der Künstlerin zwei Jahrzehnte nach den Op-Art-Kästen die räumliche Wirkung und macht aus dem Flächenbild ein Scheinrelief, das auch schon mit ge­klebten Kartonringen Zeichnung plastisch erweiterte. Green­berg hat von einer „Bildhauerei der Zeichner“ und einer „neuen bildhaften Skulptur“ gesprochen, die mit bislang ungewohnten Materialien wie Stahl(draht), Kunststoff und Glas Schweben und Schwerelosigkeit der Materie einbringt.26 Vasarely, Bridget Riley, Philipp und auch andere Vertreter des Kinetis­mus haben diese neuen Materi­alien neben der bewegten Skulptur zur Verstärkung optischer Phänomene genützt. Kurzzeitige Interventionen Philipps – wie jene im Wienfluss mit teilweise pink ­ein­gefärbten Gummireifen Anfang der siebziger Jahre – stellen sogar eine Art Gegenthese zu Alan Kaprows Autoreifenenvironment „Yard“ von 1961 dar.
Die Reihung von fünf mit Kreisen bedruckten Plexigläsern vor einer Aluminium­rückwand, mit Abweichungen in der Breite der Ringe, die der Ringraster an der Oberfläche optisch wandern lässt, steht in ihrem Werk zeitlich davor. Diese trotz Statik kinetisch wahrnehmbaren Objekte zeigen sich wie auch die Prägedrucke und aufgeklebten Kartonring-Reliefs Philipps bereits als Beispiele einer kulinarischen Geometrie, wie sie beispielsweise von Esther Stocker nach den Apotheosen der Oberfläche 2008 in eine begehbare Rauminstallation gewandelt wurde – die Überlagerung von Schichten ins Räumliche unter Mitwirkung von Lichtkunst ist bei beiden Künstlerinnen vor allem durch den starken Betrachtereinbezug gekennzeichnet.27
Es gibt also so etwas wie „Zeittransfusionen“ (Begriff Greenbergs) von den zwanziger in die sechziger und weiter in die späten neunziger Jahre des 20. Jahr­hunderts. Diese sind wie die Widersprüche in den polyvalenten Ansätzen der konkreten Kunst ein Schlüssel zu Philipps komplexer Persönlichkeit, und sie stimmen mit ihrem Werklauf von den Siebdrucken und Op-Art-Kästen ohne subjektive Handschrift bis zu den mit dynamischer Pinsel­schrift gestalteten monochromen Gemälden der neunziger Jahre überein. Es ist eine klare Entwicklung von der optischen Irritation der Werkgruppe mit bedruckten Plexiglasscheiben-Objekten bis zur subtilen Schatten-Raumwirkung der Farbtextur im Helldunkel­kontrast von Schwarz/ Weiß wie den vielen Grauabstufungen samt der Silberwir­kung des Grafit (auf einer kleinen als Palette benützten Leinwand sichtbar) und später dem Kontrast von Schwarz/Blau ihrer teils großformatigen Bilder. Wie ihre Op-Art-Kästen und die Drucke auf Plexiglas immer Objekte waren, sind auch Philipps Öl­bilder nicht nur durch die Kipp- und Umspringeffekte (perzeptive Inversion der „Schröder­schen Treppe“) der Schattenwirkung der unbunten Monochromie immer Zwitter von Malerei und Plastik. Dies entspricht auch der wesentlichen Emanzipation der Malerei vom Staffeleibild wie der Optik von der illusionistischen Perspektive eines Scheinfensters. Als Rekurs auf diese Metapher Leon Battista Albertis lässt die Künstlerin in den neunziger Jahren durch einfache geometrische Kompositionen scheinbare Fensterrahmen oder Tore durch Grau­abstufungen als Augentrug entstehen.

New York – Paris – Wien
Ad Reinhardt nützte als Erster den Kontrast Schwarz / Blau für seine „abstrakten Bilder“ und auch Soto wieder 1966 für eine Mischform aus Bild und Objekt. Zeitversetzt kam dann das kosmische Blau zu Schwarz 1996 bis 2000 in Philipps Malerei – doch rückt ihre plastische Pinselstrukturierung das Materielle stark in den Vordergrund. Die Monochromie ist ein Phänomen, das vor allem zum Auslöser des „abstrakten Expressionismus“ und später der „Postpainterly Abstraction“ und Mini­mal-Art wurde. Greenbergs Anspielung „Ad Reinhardts schattenhaftes Monochrom, wie ein Schleier geöffnet, um eine empfindsame und sehr schüchterne Sensibilität zu enthüllen“ klingt wie für einen geistigen Bruder der Künstlerin geschrieben.28 Wie Philipp und Riley bestand auch Reinhardts Leben aus Theoriediskurs neben der praktischen Kunstausübung.
Helga Philipp hielt sich 1977 und 1991 in New York auf. Es ist jedoch nicht nachvollziehbar, aber wahrscheinlich, dass sie Anregungen, weniger von Künstlern direkt als von Galerie- und Museumsbesuchen, nach Europa mitnahm. Der erste Aufenthalt galt mehr ihrer Beschäftigung mit makrobiotischer Ernährung. Durch das Essen eine reinigende Selbsterfahrung zu erreichen ist allerdings von der Vor­stellung einer durch die Geometrie beeinflussbaren Ästhetik der anzustrebenden vernünftigen Gesellschaft nicht weit entfernt. Sie interessierte sich danach für Bücher über die Bedeutung des Zen-Buddhismus29, wie der Musik und bildende Kunst mixende Schönbergschüler John Cage. Seine „reine Form“ der Musik erscheint absoluter, als Malerei je sein kann, beinhaltet sie doch eine Gleichwertigkeit von Stille und Ton, damit ein Paradox (Leere und Gestaltlosigkeit als abstrakte Denk­leistung sind die Hauptbezüge zur östlichen Philosophie) nach der Gleichwertigkeit von zwölf Tönen bei Joseph Matthias Hauer und Arnold Schönberg.
Dazu „äquivalent“ (Piet Mondrian über Geometrie und Musik) kann die Materie eines gezeichneten Reliefs bei Philipp auch schwerelos erscheinen, vor allem bei auf Transparentpapieren aufgetragenen geometrischen Grafitschichten in Grau­abstufungen, die erst übereinander gelegt ihre Wirkung entfalten. 1991 widmete sie sich in New York als Stipendiatin des Bundesministeriums vor allem dieser Arbeit an Schichtgrafiken. Zen-Buddhismus und östliche Philosophie, aber auch enthierarchisierte Bildzeichen waren auch für manchen Maler des abstrakten Expressionismus nicht unwesentlich.
Philipps Entscheidungen zur „Shaped Canvas“ (ein Begriff Frank Stellas für seine nicht in Rechteckform zugeschnittenen Bildobjekte nach dem Verlauf von diagonalen Malstreifen) oder zu mehrteiligen unbunten Streifenbildern fallen schon in die achtziger Jahre und sind wohl der Information über Kataloge oder Ausstel­lun­gen entnommen. Die Abstufungen in den späten Siebdruckserien von 2001/2 nach dem Farbenspektrum, das schon Ellsworth Kelly 1967 in ein Bild wandelte, sind zwar ohne die amerikanische Kunstentwicklung nicht denkbar, aber eigenwillige Paraphrasen.
Nach dem Kauf der Hansen-Villa in Ternitz konnte sie sich endlich auch mit großen Formaten befassen: Die Entscheidung zum Farbraum – weg vom kleinen zentralperspektivischen Fensterbild – führte nicht nur in Richtung Bildobjekt, sondern verlangte nach dem großen, oft vielteiligen Format. Dieses ist wiederum von Greenberg für die Entstehung des „abstrakten Expressio­nismus“ im Allgemeinen, für die Vorstellung des „Erhabenen“ bei Barnett Newman im Besonderen als Faktor erkannt worden.30 Fast sechzig Teile hat Philipps „Domi­no“, das spielerisch im Raum verlaufen kann, mit acht Ölbildern auf einer Breite von fast zehn Metern sind ihre Modulationen von vertikalen grauen Streifen, die variabel geordnet werden können, raumfüllend und wiederum eine perzeptuelle Gymnastik für das Auge.
Katrin Draxl nennt in ihren begleitenden Textblöcken zu Philipps Werken nicht Newman oder Reinhardt, sondern Mark Rothko als amerikanischen Favoriten der Künstlerin. Das verwundert keineswegs, auch wenn ihre Malerei nie den ­visio­nären Charakter seiner Bildmystik sucht – sicher ist es nicht Newmans oder Reinhardts zunehmende Tilgung jeglicher Virtuosität aus der Faktur. Obwohl ihr die optische Wirkung von Pigmenten, Glanz und Mattheit der Oberfläche, verbunden mit regelmäßigen Pinselstrichen, wesentlich ist, negiert sie keineswegs die subjektiven Züge kleiner Zufälle – das gilt für ihre eigene Handschrift wie die ihrer zuweilen mitarbeitenden Schüler (am Paravent etwa).
Doch auch Pierre Soulages, der seit 1979 vorwiegend dunkle Farbe (meist schwarze Abstufungen) verwendete, und die Wiederentdeckung der École de Paris sowie des Strukturalismus in den späten achtziger Jahren sind für die Malerei Helga Philipps als Anregung wesentlich. Gerade Soulages, den Greenberg fast nationalistisch zu Unrecht als „blasses französisches Gegenstück“ zu den abstrakten Expressionisten abstempelt, hat dem Lichteinfall auf verschieden gestalteten Oberflächentexturen durch wechselnde Pinselzüge und Ölanreicherung der Pigmente seine Aufmerksamkeit gewidmet.31 Diese ausgewogen zwischen subjektiv und objektiv angelegten Pinselschriften als ambivalentes Spiel zwischen glatt und rau, Glanz und opaker Dichte verschiedener Materialqualitäten sind keine alleinige Angelegenheit der amerikanischen Abstraktion nach 1945.
Schwarze Phasen des Zeichnerischen oder der malerischen Askese durch Monochromie zur Darstellung des Unbewussten passen aber auch in eine Wiener Grundbefindlichkeit seit Sig­mund Freud und treffen die Schwarzmagie einer Eva Schlegel, eines Franz Graf, Peter Kogler oder Heinrich Dunst, die nicht wie die genannten Kowanz oder Kempinger, wie Martin Breindl oder Thomas Freiler Philipps strengere Bildmodelle in der Lehre kennen lernten.
So ist denn Eugen Gomringers Bezeichnung von Philipps Arbeit von einer „Wissenschaft der Sinne“ ein Hinweis auf das freie Fortleben ihrer forschenden und spielerischen Kombi­natorik und der kinetischen Raumuntersuchungen in der jungen „Neuen Geometrie“, von denen sich viele Vertreterinnen wie die in Wien lebende Brasilianerin Inés Lombardi oder die aus Osteuropa stammenden Dóra Maurer, Marta Pan oder Agnes Denes auf internationale Einflüsse stützen und nicht mehr auf die innovativen Schübe, die Philipp, Weibel, Kren und andere in den sechziger Jahren nach Wien brachten.32 Trotzdem weist Bog­ner zu Recht auf die nun gemischte Präsenz mehrerer Generationen im Ausstellungswesen hierzulande hin – da passen auch Stefanie Kiesler (Pietro Saga, 1897 – 1963), Gerlinde Wurth, Fria Elfen, Waltraut Cooper, Inge Dick oder Inge­borg Goeschl-Pluhar zu den jüngeren Andrea Pesendorfer, Hans Kupelwieser oder Sabina Hörtner mit ins Bild. Die visuelle Lust der gar nicht kühlen oder gefühlsfrei konstruierten Geometrie der Transmoderne kämpft weiter gegen spekulative Marktstrategien und für mehr Kommunikation mit dem Betrachter im ästhetischen Alltag einer demokratisierten Weltkunst, die oft auch eine künstlerische Wissenschaft vom Sehen ist – gerade in der dominanten Bildsprache unserer Zeit nach dem „Iconic Turn“.33

 

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1   J. Cage; Vortrag über nichts, in: Silence, Neuwied-Berlin 1969, S. 21. Helga Philipp besaß dieses Buch.

2  M. Weiß: Brisante Elementarteilchen, in: Kunstzeitung Nr. 7, 2009, S. 1.

3  D. D. Hoffmann: Visuelle Intelligenz. Wie die Welt im Kopf entsteht, Stuttgart 1998.

4  C. Greenberg: Die gegenwärtigen Aussichten der amerikanischen Malerei und Skulptur, in Hg. K. Lüdeking: Clement Greenberg. Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 123ff.

5  Siehe Burghart Schmidt in seiner Eröffnungs­rede für die Werke konkreter Kunst im Austria Center in Wien in den neunziger Jahren: „Die konkrete Kunst lebt aus dem Geist des Baruch de Spinoza …“ und zum Paradox W. Seitter: Zugänge zum Barock in der französischen Philosophie: Foucault, Lacan, Deleuze, in: Barock als Aufgabe, Hg. A. Kreul, Wiesbaden 2005, S. 245ff.

6  Der Schau ging 1984-1986 die Installation eines Raumes in Schloss Buchberg am Kamp voraus, bei der Morellet einen Riss in der Mauer wie einen Ast in seine Bildteilungen einbezog. Siehe Hg. D. und G. Bogner: Raumkunst. Kunstraum, Wien 2000, S. 95-97, 185.

7  1987 wurde in Schloss Buchberg ein Symposion zu Kunst und Ökologie abgehalten, das im Kunstforum international Bd. 93, Februar/März Köln 1988 abgedruckt ist. Weiters: Eugen Gomringer im Gespräch mit Florian Rötzer: Ordnung und Mystik, in Kunstforum inter­national Bd.107, April/Mai Köln 1990, S. 268 ff.

8  D. Bogner, E. Badura-Triska: Johannes Itten. Meine Symbole, meine Mythologien werden die Form und Farbe sein, Wien-Zürich-Klagenfurt 1988.

9  Dank Olga Okunev hatte die Autorin ständigen Zugang zur Bibliothek Philipp. Dies war eine wesentliche Ergänzung zu den Gesprächen mit Helga, die zu selten intensiv um ihre Arbeit kreisten. Dabei wesentlich erscheint: Hg. H. Ronge: Kunst und Kybernetik. Ein Bericht über drei Kunsterziehertagungen. Recklinghausen 1965/66/67, Köln 1968.

10  Dieter Bogner nennt insbesondere die Struktur­analyse von Hans Sedlmayr, aber auch Otto Pächt, beide greifen auf Alois Riegl um 1900 zurück, in: Raumkunst, siehe Anm.3, S. 225ff. Dem sind aber Bogners eigene Unterrichts-Methodik anzufügen und seine direkten Bezüge zu zeitgenössischen KünstlerInnen, die für uns Studierende wesentliche Impulse gaben.

11  Hier spielen auch Arnold Hauser und Norbert Elias als soziologisch orientierte Kunstwissen­schafter eine große Rolle.

12  T. Zaunschirm in: Ausst. Kat. helga philipp. objekte–grafik, Graz 1974, o.S. Gleichzeitig verwendet Gilles Deleuze in Frankreich den Ausdruck „kosmisches Zeitalter“, und Michel Foucault entwirft seine Gefängnisgeometrien.

13  W. Hofmann; Ars combinatoria, in: Anhalts­punkte. Studien zu Kunst und Kunsttheorie, Frankfurt 1989, S. 9ff.

14  K. Clark; Klecks und Diagramm, in: Der Monat 15. Jg. Heft 178, Juli 1963, S. 50ff. Die Op Art empfand sich also anfangs als Kämpferin gegen die Mystik und war doch auch Keimzelle post­moderner Ambiguität.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

15  R. Laven: Franz Cizek und die Wiener Jugendkunst, Wien 2006. Ausst. Kat. L. W. Rochowanski. Aquarelle – Zeichnungen 1919-1921, Wien 1987, S. 70f.

 

16  Trotzdem war die im Jahr 2007 in Weimar statt­findende parallele Schau von Werken Helga Philipps zum „Wiener Kinetismus“ folgerichtig. Sie kam auf Anregung von Bernhard Leitner zustande.

 

17  D. Perrier: Die kinetische Kunst. Ein Spiel mit der Technik als Träger neuer Gedanken in den fünfziger Jahren, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch Bd. LVIII, 1997, S. 101ff.

 

18  Eine Ausstellung des Moma in New York 1965 über die Optical Art war „The Responsive Eye“ betitelt.

 

 

 

19  E. Patka, G. Nagler: Farbenlust und Formgedan­ken. Abstrakte Wege in Österreich 1900-2000, Wien-Baden-Klagenfurt 2001, S. 121. Erst Jahre nach dieser Erkenntnis der Op-Art-Künstler und Philipps im Besonderen kümmerte sich die Kunst­geschichte um die Rezeptionsästhetik. Der Text ist erstabgedruckt als Interview mit Helga Okunev in: D. Bogner, Ausst. Kat. Helga Philipp. Neue Arbeiten. Recent Works, Kunstraum Buchberg und NÖLM in der Hansen Villa Ternitz 1991, o.S.

 

 

 

 

20  Philipp fuhr zwar zu den Symposien in Schloss Buchberg, gehörte aber nicht den „Exakten Tendenzen“ um Ingerl, Joos, Malche, Putz und Weiger an. Leider konnte sie keinen Raum im Schloss ausgestalten wie etwa die ungarische konkrete Künstlerin Dóra Maurer, Roland Goeschl oder Peter Weibel. Anregerin der Gruppe war Hildegard Joos. Ausst. Kat. H + H Joos. Narrative Geometrismen, NÖLM Wien 1994. Bogner und der „Kunstraum Buchberg“ waren aber Mitveranstalter von Ausstellungen in der Ternitzer Hansen-Villa.

 

 

 

21  B.A.Böhler: Monsignore Otto Mauer. Ein Leben für Kirche und Kunst, Wien 2003.

 

 

 

 

 

22  2007 war Philipp mit Soto, Morellet und der ihren Schwarzweißspielen nahestehenden Bridget Riley in der Ausstellung „Op Art“ der Frankfurter Schirn Kunsthalle wieder vereint. Ausst. Kat. Op Art, Hg. M. Hollein, M. Weinhart, Köln 2007.

 

 

23  Briefe, Karten und gemeinsame (teils Automaten-)Fotografien belegen diese lebenslange Freundschaft.

 

 

24  D. Bogner: Konkret, konstruktiv, konzeptuell – oder?, in: Ausst. Kat. Künstlerinnen-Positionen von 1945 bis heute. Mimosen-Rosen-Herbstzeitlosen. Krems 2003, S. 82ff.

 

 

 

25  P. Weibel in: Ausst. Kat. jenseits von kunst, Wien-Graz-Budapest 1997, S. 166, und sein Text in diesem Katalog. Geringe Verschiebungen, wie sie auch Vasarelys Antisymmetrien bieten, bewirken effektvolle Transformationen – die Bildfläche geht dynamisch im Raumhaften auf, die Umsprünge können fast Kopfschmerz verursachen.

 

26  Greenberg: Eine neue Skulptur, siehe Anm. 4, S. 153ff.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

27  Hg. R. Fuchs: Ausst. Kat. Esther Stocker. geometrisch betrachtet, Wien 2008.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

28  Greenberg: Neuerdings die Skulptur, siehe Anm. 4, S. 363.

 

 

 

 

 

 

29  Zum Bespiel: Erich Fromm u.a.: Zen-Buddhismus und Psychoanalyse, München 1972 (1. Auflage 1963).

 

 

 

 

 

30  Ebenda, S. 330.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

31  Ebenda, S. 223.

 

 

 

32  Gomringer im Gespräch mit Rötzer, siehe Anm.7, S. 268ff., und M. Brüderlin: Postmoderne Seele und Geometrie, in: Kunstforum international Bd.86, November/Dezember 1986, S. 80ff.

 

33  D. Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2007, S. 329.