Über die Bildgrenzen hinaus

Katrin Draxl

Die zu Beginn der siebziger Jahre entstandenen kinetischen Objekte aus Plexi­glas sind Philipps letzte Arbeiten, die der Op Art zuzurechnen sind. Das Spiel mit der optischen Wahrnehmung findet sich zwar immer wieder in ihrem Werk, im Mittel­punkt steht nun allerdings die Einfachheit der eingesetzten Mittel in Form und Medium sowie der Aspekt der Bewegung, der Philipp in Form des Dialogs zwischen dem Objekt oder Bild und dem Betrachter bis zu ihren letzten Arbeiten begleitet hat.
Von 1977 an entstehen Grafiken, die sich formal auf den Einsatz der Linie beschränken. Mit höchster Präzision setzt Philipp die mit Grafit gezeichneten Linien nebeneinander auf den Bildträger und arbeitet wie schon bei den Prägedrucken in Serien. Zunächst greift sie das Prinzip der im Jahr zuvor umgesetzten Installation auf: Sechzehn parallele Linien laufen vertikal über Zeichenkarton, wobei die Abstände zwischen den Linien in sechs Schritten vergrößert werden. Die dichte Linienstruktur des ersten Blattes wird systematisch flächendeckend ausgedehnt. Während bei den Schichtungen der Planen in ihrer Installation von 1976 eine Tiefenwirkung zum Tragen kommt, entsteht beim vorbeigehenden Betrachten dieser Serie der Eindruck, schrittweise an die Arbeiten heranzuzoomen. Das Variieren der Abstände zwischen den Linien erzeugt perspektivisch die Wahrnehmung eines weit entfernten Objek­tes, das näher kommt.
In einer zweiten Serie, ebenfalls auf Karton, führt Philipp ein neues Prinzip ein. Das breite Linienband wird nun in seinem Verlauf variiert und bekommt einen Knick, der über sechs Blätter hinweg vom oberen Bildrand zum unteren wandert. Die bildinhärente Bewegung erschließt sich dem Betrachter wiederum erst durch die Zusammenschau aller Blätter.
Noch im selben Jahr beginnt Philipp auf Büttenpapier zu zeichnen. Durch die nun horizontale Linienführung und das Arbeiten in Serien laufen die Linienbänder scheinbar von einer Blattseite zur anderen, über den Bildrand hinaus und in der nächsten Grafik weiter. Die zartgrauen Linien bilden einen optischen Kontrast zu ihrem strengen Verlauf und werden durch den sichtbaren Strich des Grafitstiftes belebt, wodurch der flirrende Effekt des Linienmusters noch verstärkt wird. Wie schon bei den früheren Ringgrafiken hinterlässt Philipp in der Grafitzeichnung ihre persönliche Handschrift.
Betrachtet man die Blätter einzeln, kippt die Linienstruktur von der Ebene in den Raum. Es entstehen Winkel und Flächen, die einmal als Negativform er­scheinen und einmal auf den Betrachter zukommen. Dieser Effekt bewirkt beim Entlanggehen an den gehängten Blättern den Eindruck von Bewegung: Eine Kante wandert von der rechten Seite zur linken, oder die Fläche zwischen zwei Kanten wird zunehmend breiter. Mit konkreten, einfachsten Mitteln wie der Multiplikation von Linien und dem Prinzip der Serialität gelangt Philipp in diesen Blättern zur Darstellung von Raum und Zeit in der zweidimensionalen Fläche. Konrad Paul Liessmanns Überlegungen zur Darstellung von Räumlichkeit bei Vasarely sind auch auf Philipps Arbeiten anzuwenden: „Nicht Räume, sondern Räumlichkeit, nicht Körper, sondern Körperlichkeit sind das Sujet solcher Bilder.“1 Philipps Anliegen ist nicht die Darstellung eines konkreten räumlichen Gefüges. Vielmehr möchte sie die Aufmerksamkeit des Betrachters durch das gleichzeitige Angebot unterschiedlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten auf den abstrakten Begriff des Volumens lenken.
Hinsichtlich des Aspektes der Bewegung ist bei Philipp ebenfalls ein bereits von Vasarely bekanntes Prinzip wiederzufinden. Durch das enge Nebeneinandersetzen der schraffierten Grafitlinien wird das Auge permanent in Bewegung gehalten, ohne dass der Betrachter sich dieser Bewegung bewusst werden muss. Durch den sich wiederholenden Schwarz-Weiß-Kontrast kommt es zu optischen Überlagerungen in der Wahrnehmung, zum Flimmereffekt. Hier greift die Künstlerin auf bereits in ihren ersten Siebdrucken erprobte Methoden der optischen Irritation zurück.
Anfang der achtziger Jahre überträgt Philipp das Linienmotiv auf schwarz grun­dierte Leinwand. Hat das Medium Grafit in den Grafiken den dunklen Kontrast zum weißen Büttenpapier dargestellt, so fungiert es jetzt aufgrund seines metallischen Schimmers als hellerer Tonwert auf der schwarzen Leinwand. Erstmals verwendet Philipp Leinwand als Trägermedium und weitet damit auch das Format ihrer Arbeiten wesentlich aus. Die ungewöhnliche Kombination eines grafischen Medi­ums, des Grafits, und der Leinwand als Trägermedium für Malerei zeichnet diese Arbeit als Bindeglied zu den ab 1985 entstehenden Malereien aus.
Die siebziger Jahre sind erfolgreiche Jahre für Helga Philipp. In der Galerie nächst St. Stephan zeigt sie ihre kinetischen Objekte (1971), die Siebdrucke (1972) und die Prägungen (1976). Ihre neuen Liniengrafiken stoßen auf große Resonanz, als sie 1979 in der Modern Art Galerie erstmals der Öffentlichkeit präsentiert werden. Sie pflegt Kontakte zu der 1976 von Gertraud und Dieter Bogner gegründeten Gruppe Exakte Tendenzen und nimmt 1979 erstmals an einem Symposion im Schloss Buchberg am Kamp teil, bei dem unter anderen Richard P. Lohse als Vortragender geladen ist.
Mit 1975 ändert sich auch Philipps Status an der Hochschule für Angewandte Kunst; sie erhält eine ordentliche Assistenzprofessur, die sie bis 2002 innehat.

 

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1   Liessmann, Konrad Paul: Die eigentliche physi­kalische Tätigkeit. Kunst, Wissenschaft und utopische Programmatik bei Victor Vasarely.   In: Schröder, Klaus Albrecht (Hrsg.): Victor Vasarely – Retrospektive. Katalogbuch Kunstforum Wien, München, 1992, S. 34.