Licht und Grafit

Katrin Draxl

Bevor sich Philipp intensiv mit einer neuen künstlerischen Technik, nämlich der Schichtgrafik, auseinander zu setzen beginnt, übersetzt sie im Jahr 1992 noch einmal die in ihren Malereien weiterentwickelten und erprobten Motive und Strategien in Objekte. Ein in zwei Dreiecke unterteiltes Quadrat ist motivisch der Ausgangs­punkt für die Übersetzung aus der Fläche in die Dreidimensionalität: einmal in ein zweiteiliges Spiegelobjekt, das sich wie der Paravent in drei Teilen öffnen und schließen lässt, einmal in ein Objekt aus Blei.
Ab 1991 wendet sich Philipp der so genannten Schichtgrafik zu, in der sie mit Grafit auf Transparentpapier arbeitet und mehrere Lagen dieser Papiere übereinander legt. Interessant ist für sie hier nicht mehr der faktische Abstand zwischen den einzelnen Bildträgern und die daraus entstehende optische Wirkung wie in der Installation „Schichtungen“, sondern der Hell-Dunkel-Kontrast der in Grafit aus­geführten Motive. Bei der Verwendung von Transparentpapier liegt der Vorgang der Farbabstufung zum Teil im Material selbst begründet, fordert nicht mehr das aktive Sehen und Farbmischen der Künstlerin und wird damit weitgehend entindividualisiert.
Die ersten entstehenden Schichtgrafiken zeigen die Kombination einfacher Formen wie Balken, Parallelogramme, Dreiecke und Quadrate. Durch den Hell-Dunkel-Kontrast entsteht dabei der Eindruck eines räumlichen Hintereinan­ders, der Eindruck von Raumtiefe. In einer weiteren Gruppe von Grafiken arbeitet Philipp mit stereometrischen Formen wie dem Quader und dem Prinzip der perzep­tiven In­version, das sie schon in der Malerei beschäftigt hat. Auch ihre Strategien zur Erzeugung von Bewegung in der Fläche setzt sie in der Schichtgrafik um, zum einen mittels Variation geometrischer Grundformen, zum anderen durch starke, Spannung erzeugende Farbkontraste.
Mit der Lichtinstallation „Domino“ realisiert Helga Philipp von 1995 bis 1997 ihre einzige Auftragsarbeit, nachdem ihr Entwurf bei einem geladenen Wettbewerb gewonnen hat. Die Ausschreibung verlangte eine Darstellung von Evolution mit Bezug zu Pharmazie und Erdgeschichte für das Foyer zu Hörsaal 6 im Universitäts­zentrum Althanstraße in Wien. Für die Installation adaptiert die Künstlerin ihre erste malerische Arbeit „Domino“. Die einzelnen Elemente bestehen aus jeweils vier mit Abstand hintereinander geschichteten Glasplatten vor einer Edelstahl­platte, wobei auf jede der Glasplatten ein Farbstreifen von Schwarz über drei Graustufen bis Weiß aufgetragen werden kann. Fünf davon parallel zum Bildrand, fünf diagonal dazu, das elfte Element ist leer. Anders als in der Leinwandversion lassen sich die einzelnen quadratischen Elemente nicht sofort als Paar erkennen. Daher integriert Philipp künstliches Licht in Form von Neonröhren in die Instal­lation, um die Lesbarkeit zu erhöhen. Warmes Licht trennt die einzelnen Domino-Elemente voneinander, kaltes Licht grenzt die Arbeit vom Hintergrund ab. „Nicht illustrativ, sondern analog“1 beschreibt Philipp ihren Wettbewerbsbeitrag und damit gleichzeitig ihre Herangehensweise an das gestellte Thema. In den Naturwissen­schaften, zu denen Pharmazie, Erdgeschichte und Evolution zu rechnen sind, wird mit ähnlichen Strategien gearbeitet, wie sie Philipp in ihrer Kunst einsetzt: Systeme als Konstruktionen zur Beschreibung von Prozessen und Abläufen, die Beobachtung von Kombination und Variation, die Abbildung von Interaktionen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen.
Mit minimalsten Mitteln, mit Grafit auf schwarzem Papier, arbeitet Philipp ab dem Jahr 1996. Den Einzelteilen, die in der Schichtgrafik ein Ganzes ergeben haben, ordnet sie nun einen selbstständigen Status als Grafik zu. Das Thema der Relation des Ganzen zu seinen Teilen beschäftigt Philipp auch in Form von einander ergänzenden Positiv- und Negativformen. Ein wesentlicher Aspekt bei diesen Arbeiten ist die Frage nach der Flächenaufteilung im Hell-Dunkel-Kontrast. Trotz spannungsreicher Kontraste wirken die Kompositionen, teils durch Spiegelung der Motive, sehr ruhig und ausgeglichen.
Ein zweites Thema dieser Grafiken ist das des Ablaufes und damit verbunden das der Drehung einer Fläche im Raum. So wird beispielsweise ein Quadrat schrittweise zur Raute, wirkt perspektivisch verzerrt. In einer handschriftlichen Notiz listet Philipp unter dem Titel „Bewegungsraum“ unterschiedliche Möglichkeiten der Darstellung von Bewegung in der Fläche auf:

Bewegung / Kinetik
Darstellung einer Bewegung
Darstellung eines Gegenstandes durch Bewegung (Drehung desselben, z.B. Abrollen eines Modells)
Bewegung durch Wiederholung bzw. Veränderung eines Gegenstandes (Prüfungsaufgabe)
Ornamentale Gestaltung (individuelle Ausw. desselben)
z.B. kinetisches Objekt Veränderung durch Bewegung des Beschauers od. mechanische Bewegung des Objekts
mechanische Herstellung durch Druck oder Lichtpause (zerschneiden und neue Montage)
Film (Aufeinanderfolge von Bildern) oder Buch (gebundene) oder Serie
(lose Aneinanderreihung, austauschbar, serielle Struktur)
Programm: best. oder unbestimmte Folge
Veränderung des Lichts (Schatten)
z.B. schwarz/silber
Entwurf eines Programms2

Der in Klammer angefügte Begriff „Prüfungsaufgabe“ lässt vermuten, dass diese Notiz im Rahmen didaktischer Überlegungen für den Unterricht entstanden ist.
Bisweilen geht Philipp aber auch von ihrer bisher bevorzugten Form der Rei­hung oder der seriellen Struktur ab und wendet sich Kompositionsformen zu, die eine Zentrierung auf einen dominanten Mittelteil zeigen.

<<

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1  Begleittext zur Einreichung des Modells für „Do­mino“ aus dem Nachlass Helga Philipp, 1995.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2  Handschriftliche Notiz aus dem Nachlass Helga Philipp, undatiert.