Malerei im Raum

Katrin Draxl

Im Jahr 1978 ersteht Helga Philipp in St. Johann bei Ternitz, Niederösterreich, eine nach im Krieg verlorenen Plänen von Theophil Hansen erbaute Villa aus dem Jahr 1879, die sie in den folgenden Jahren zeitintensiv renoviert. Philipps künstlerische Arbeit muss dadurch eine Zeit lang zurückstehen, danach allerdings erlaubt der neue, großzügige Arbeitsraum auch die Verwendung anderer Materialien und größerer Formate.
In den Jahren 1985 bis 1987 entsteht Philipps erste Arbeit in Öl auf Leinwand mit dem Titel „Domino“. Beachtliche sechsundfünfzig Teile umfasst das Werk und folgt in seinem Aufbau dem klassischen Domino-Legespiel. Statt mit dem Punkte­system arbeitet Philipp wie in ihren zuletzt entstandenen Grafiken mit parallel oder diagonal zum Bildrand angelegten Linien, deren Grauwerte sie entsprechend dem „Punktewert“ variiert. Das Fehlen eines Zentrums, die Gleichwertigkeit aller Teile des Werkes sowie die Einhaltung vorab festgelegter kompositorischer Regeln verbinden „Domino“ mit den Prinzipien der Zwölftonmusik1, deren Wesen Philipp wie folgt beschreibt: „Der Zwölftonkomposition liegt ein Reihenprinzip zugrunde. Sie setzt sich aus den in der chromatischen Skala gegebenen Halbtönen zusammen. Diese werden jedoch nicht stufenweise angeordnet, sondern der Komponist legt die Reihenfolge vorher nach eigenem Ermessen fest. Die Reihe wird dann für die kompositorische Ausführung eines Musikwerkes zur verbindlichen Organisationsform. Sie kann inner­halb der einmal gewählten Tonordnung auf die vielfältigste Weise noch verändert werden, ihre Grundstruktur bleibt jedoch generell verbindlich. Die Zwölftonreihe hat kein Zentrum. Alle zwölf Töne sind absolut gleichberechtigt.“2
Friedrich Achleitner beschreibt das Prinzip der Reihe bei „Domino“ sehr treffend als „über den Bildrand hinauswirkende Kraft und Dynamik der Transformation“, als „ein kinetisches Moment der in die Zeit übergreifenden Veränderung, wobei jeder Zustand eines Bildes (Elementes) den vergangenen in sich aufnimmt und den nächsten in sich trägt“3. Die Arbeit „Domino“ hat aufgrund der großen Anzahl an kombinierbaren Elementen und der sich daraus ergebenden physischen Präsenz das Potenzial, jeden Ausstellungsraum zu erobern.
In den folgenden Malereien beschäftigt sich die Künstlerin mit dem Verhältnis von Bildfläche und Begrenzung. Die Bildfläche wird autonomer Gegenstand, der Bildrand aufgewertet. Er ist nun nicht mehr Begrenzung, sondern Bestandteil der Fläche. Zunehmend werden dargestellte Form und Leinwandgrenze kongruent eingesetzt, sodass der aus der amerikanischen Malerei entlehnte Begriff „Shaped Canvas“ gerechtfertigt scheint.
In Philipps Malerei lassen sich immer wieder Reminiszenzen an die amerikanische nichtgestische Malerei der 60er Jahre finden. Sie selbst erinnert sich bei der Frage nach ihren persönlichen Eckpfeilern in der Bildenden Kunst an die amerikanische Moderne, speziell an Mark Rothko, an Yves Klein sowie „viele Künstler der Op-Art“.4 Der amerikanische Maler Frank Stella ist der Erste, der ab 1959/60 das Format seiner Bilder den Motiven anpasst und das Prinzip „Shape as Form“ konse­quent in Bildreihen umsetzt. Die Arbeiten Stellas wie auch die „Shaped Canvases“ von Helga Philipp bekommen durch die Kongruenz von Bildfläche und -rand, dem Abweichen vom klassischen Leinwandviereck einen objekthaften Charakter, sind mehr Gegenstand als Bild. Aus dem Kontrast zwischen zweidimensionalem Bildträ­ger und dreidimensionaler, illusionistischer Wirkung entsteht die Spannung dieser Arbeiten. Objekthaft muten sowohl „Domino“ als auch die „Shaped Canvases“ an und belegen damit eindrucksvoll Philipps Ausbildung und Verwurzelung in der Bildhauerei.
Von der amerikanischen, nichtgestischen Moderne unterscheidet sich Philipp jedoch wesentlich hinsichtlich der Behandlung des Farbmaterials. Statt einer sehr glatten Farbfläche wie bei Ellsworth Kelly erzeugt Philipp mit dem pastosen Auftra­gen der Ölfarbe eine Oberflächenstruktur, die im Spiel mit dem einfallenden Licht Bewegung in die Fläche bringt. Die bereits in ihren Liniengrafiken durch die Führung des Grafitstiftes auffallende persönliche Handschrift manifestiert sich in der Malerei in den Spuren, die die Künstlerin in der Farbe hinterlässt. Charakteristisch für Philipps Malerei ist zudem die Verwendung von Grafitstaub für die Schwarz-Töne und feinem Aluminiumstaub für die silbrig-grauen Farbflächen. Trotz dunkler Farbwerte scheinen ihre Malereien aufgrund der reflektierenden Teilchen im Pigment zu strahlen.
Als konsequente Übersetzung der Eigenschaften von „Domino“ und der „Shaped Canvases“ in ein Objekt entsteht in den Jahren 1987 bis 1989 der „Paravent“. Fünf über Scharnieren miteinander verbundene Holztafeln dienen als Bildträger für ein komplexes System von Farbstreifen in unterschiedlichen Grautönen. Der Paravent als reales Objekt im Raum eröffnet dem Betrachter vielfältige Wahrneh­mungsmöglichkeiten: Zum einen entsteht durch die Faltung der fünf Einzelteile zueinander eine bewegte Schattenlandschaft, die sich je nach Lichteinfall und Betrachterstandpunkt verändert. Die Abstufung der Grautöne auf den Holztafeln, welche bildinhärent den Eindruck von Licht und Schatten erzeugt, steht in ­permanenter Wechselwirkung mit dem Raumlicht und regt den Betrachter zu differenzierter Wahrnehmung an. Zum anderen bewirkt die zur Mitte hin zunehmende Verjüngung der Farbbahnen eine perspektivische Verzerrung. Licht- und flächenkinetische Aspekte versetzten den Paravent in eine Art flirrende Bewegung, verankert ist er durch seine Standlinie, die gleichsam die Struktur des Parkettbodens aufzugreifen scheint. Einige Fotografien des Paravents lassen den Einfluss erahnen, den der konkrete Umraum der Villa auf Philipps Arbeit ausgeübt hat.

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1  Besonders Josef Matthias Hauer hat mit seiner Zwölftontechnik zentrale Konzepte der konkreten Strömung in Wien und Österreich bereits vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt.

 

 

2  Undatierte handschriftliche Notiz aus dem Nachlass Helga Philipp.

 

 

3  Philipp, Helga (Hrsg.): Domino – Foyer Hörsaal 6 Universitätszentrum Althanstraße Wien, Ausst. Kat., Wien 1997, S. 3.

 

 

 

 

 

4  Forum Konkrete Kunst Erfurt (Hrsg.): Logik und Poesie. Kolloquium vom 21.-23. Juni 2001. Dokumentation der Ergebnisse, Schriftenreihe 5, Erfurt 2001, S. 33.