Helga Philipp.
Das Bild und der Betrachter, eine neue Gleichung für die Malerei

Peter Weibel

Helga Philipp war für die Wiener Kunstszene zwischen 1960 und 1965 von zentraler Bedeutung. Gemeinsam mit Kollegen wie Marc Adrian, Kurt Ingerl, Richard Kriesche, Hans Florey, Hermann Painitz, Peter Perz und Kolleginnen wie Hildegard Joos arbeitete sie an jener konstruktiv-geometrischen Strömung, die an den Wiener Kinetismus eines Franz Cizek der 1920er Jahre und an das abstrakte Ornament der Secession und der Wiener Werkstätte um 1900 anschloss und als Op Art oder Kon­krete Kunst in die Geschichte einging. In Nachbarschaft dazu arbeiteten Bildhauer wie Fritz Hartlauer1, Joseph Pillhofer und Kart Prantl ebenfalls an einer geometrischen Abstraktion der Skulptur jenseits der Wotruba-Schule. Primär beschäftigte sie sich allerdings mit der geometrischen Abstraktion der internationalen Gruppe Abstraction-Création2, der Konkreten Kunst von Max Bill3 und der Kinetischen Kunst4. Typisch für diese Zeit ist ihr Werk Kinetisches Objekt (1962-63), ein Siebdruck auf Glas und Papier im Holzrahmen. Die Vielzahl kleiner Quadrate und Rechtecke, in Schwarz und Weiß auf flachem Grund gemalt, verbindet sich immer wieder zu neuen Konstellationen, wenn durch den Wechsel des Blickpunktes des Betrachters die Quadrate und Recht­ecke auf dem Glas mit den Quadraten und Rechtecken auf dem Papier neue Interferenzen eingehen. Es entstehen 3D-Effekte, das Bild drängt in den Raum, Kreise wölben sich dem Be­trachter entgegen, und andere optische Täuschungen reizen das Auge. Obwohl der Titel Kinetisches Objekt lautet, handelt es sich um ein Paradebeispiel von Op Art. Op Art ist nämlich nicht nur die Kunst der optischen Täuschung, sondern vor allem auch die Kunst des Betrachters, denn nur durch die Bewegung des Betrachters vor dem Bild entstehen die optischen Effekte. War der Futurismus die Kunst der Darstellung der Bewegung auf der zweidimensionalen Fläche des Bildes, wobei das dargestellte Objekt in Bewegung war, aber der Betrachter stillstand, so war im Kubismus der Betrachter in Bewegung, und das dargestellte Objekt verblieb im Ruhestand. Die Kinetik hat 1920 mit dem Werk Kinetische Konstruktion von Naum Gabo die reale Bewegung eingeführt. Hier erzeugte eine reale Bewegung eine optische Täuschung, nämlich ein Scheinvolumen, ein virtuelles Volumen, wie es später László Moholoy-Nagy in seinem Buch von material zu architektur5 (1929) benannte. In den 1950er und 60er Jahren schufen Jean Tinguely, Getulio Alviani, Gianni Colombo, Yaacov Agam, Domingo Alvarez und Stanislav Filko zahlreiche virtuelle Volumen, und auch der Op-Art-Künstler Soto sprach 1967 von „virtuellen Relationen“6. Die Kinetik handelt also nicht nur von der realen Bewegung, sondern auch von der Scheinbewegung. Die reale Bewegung blieb allerdings in der Op Art nicht nur auf das Objekt beschränkt wie in der Kinetik. In der Op Art fokussiert sich die reale Bewegung auf den Betrachter. Die Bewegungen des Betrachters änderten die Formen des Bildes und schufen optische Täuschungen und virtuelle Effekte.

Niemand in Wien hat das so klar erkannt wie Helga Philipp. Deswegen hat sie als Künstlerin aus der Kinetischen und Optischen Kunst, aus der Konkreten und Abstrakt-Geometrischen Kunst so herausgeragt und ihre Einsichten in einem ­exemplarischen Manifest beschrieben. Dieses Manifest gehört zu den zentralen Künstlertexten Mitte der 1960er Jahre, denn bereits in den ersten beiden Worten wird eine neue Gleichung aufgestellt, die für die nächsten 50 Jahre den Charakter des technischen Bildes definieren wird, nämlich „Bild und Beschauer“. In den nächsten zwei Zeilen weist sie darauf hin, dass nur die Existenz des Beschauers die Existenz des Bildes garantiert und dass die Veränderung des Beschauers die Veränderung des Bildes produziert. Die folgenden Jahrzehnte der Partizipation und Interaktivität, welche die Medienkunst definieren, fanden hier ein zentrales Grün­dungsmanifest. Helga Phillip hat zwar nicht wie Marc Adrian oder Otto Beckmann7, ein weiterer Weggefährte, den Weg der Neuen Medien beschritten, aber den Weg zu den Neuen Medien eröffnet. Daher sei dieses zentrale Manifest der betrachterabhängigen Kunst, welche die Epoche der Partizi­pation und Interaktion mit dem Bilde eröffnete, zur Gänze abgedruckt:

bild
beschauer
existenz des bildes
existenz des beschauers
gegenseitige beziehung
beschauer – bild
bild – beschauer
existenz des bildes durch den beschauer
existenz des beschauers durch das bild
bewegung des beschauers gegen das bild
bewegung des bildes mit dem beschauer
gegenbewegung
bild – beschauer
beschauer – bild
einbeziehung des raumes in das bild
bewegung im raum im bild
bewegung im raum und die des beschauers durch das bild
bewegung des bildes durch den beschauer und den raum
veränderung des bildes durch veränderung des lichtes
veränderung des bildes durch veränderung des beschauers
qualität des beschauers
qualität des bildes
(helga philipp)

Helga Philipp entwirft in diesem Manifest ein logisches Netzwerk der Schlüssel­begriffe der Dekade: Betrachter, Bild, Bewegung, Raum, Licht, Veränderung. Die Veränderung, die Transformation, die Variabilität sind Ziel des Kunstwerkes. Auf wunderbare Weise ist dieses Kippen von den kinetischen Objekten und Op-Art-Bildern zur Medienkunst in einem Film zu erkennen, nämlich in dem Film 11/65 Bild Helga Philipp8, den der Avantgarde-Filmer Kurt Kren 1965 von einem Sieb­druck Helga Philips filmte. Sowohl das Blatt zittert in Bewegung, als auch die Kamera bewegt sich in Nahaufnahmen über das Blatt und auf das Blatt zu. So entsteht genau aus der apparativen Kinetik der Kamera das Feld der optischen Effekte. Wahrscheinlich hat Helga Philipp Kurt Kren über Marc Adrian kennen gelernt, der in den 1950er Jahren bereits Filme mit Kurt Kren drehte9 und mit dem sie 1965 ihre erste Personalausstellung in Klagenfurt hatte (in der Galerie Heide Hildebrand). Im Jahr 1965 nahm sie auch an der Ausstellung Nova Tendencija 3 (Neue Ten­denz 3) in Zagreb und ebenso 1969 an Tendencije 4 (Tendenzen 4) teil. Damit war sie ein Mitglied einer der wichtigsten Kunstbewegungen der Neo-Avantgarde nach 1945. Bald folgten Ausstellun­gen in der Galerie Nächst St. Stephan Wien 1968 mit Marc Adrian und Richard Kriesche und 1971 in Klagenfurt eine Ausstellung mit Peter Perz und Arnulf Komposch Spiegelspieler und Spiegelspiele. Das Material von Helga Philipps Kunst dehnte sich von Plexiglas auf Aluminium und Metallspiegel aus. Ebenso auf Gummi und andere Materialien. Die Ensembles von Gummireifen leitete sie zehn Jahre später von ihren kinetischen Objekten aus Plexiglas von 1962/63 ab. Auf mehreren Plexiglasscheiben war eine Vielzahl von Kreisen im Siebdruckverfahren aufgebracht, die durch die Bewegung des Beobachters virtuelle Tiefen und Bewegungen erzeugten, ebenso Muster aus Interferen­zen. Solche Reifenobjekte konnten nicht nur auf dem Boden liegen, sondern auch von der Decke hängen oder bildeten Bodenplastiken aus Metallreifen. In den späten 1960er Jahren hat nämlich Helga Philipp ihr visuelles Vokabular auch auf Lichtkunstinstallationen im öffentlichen Raum und auf das Design von Möbeln übertragen. Sie hat die flächige Op Art in den Raum expandiert und somit das Genre der Kunst im öffentlichen Raum zumindest für Österreich wesentlich mitbegründet. Im Jahre 1965 fand in New York die berühmte Ausstellung The Responsive Eye statt, die kunsthistorische Geburtsstätte der Op Art. In diesem Jahr hatte Helga Philipp ihre erste Ausstellung in einer Galerie. Viele sollten noch folgen, einen Höhepunkt bildet die Teilnahme an der Ausstellung Kinetika im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien, ebenfalls im Jahr 1967.
Kreis, Rechteck und Quadrat, Viereck oder Vieleck waren für Helga Philipp keine objektiven platonischen Körper, sondern Elemente eines Spiels der Kombinatorik, in dessen Zentrum der Betrachter stand. Alles war beweglich, das Bild, das Objekt und der Betrachter, also galt auch, alles war veränderlich. Sogar die Koordinaten von Raum und Zeit. Die vibrierenden optischen Wirkungen, die durch die Interferenzen der For­men auf transparenten Bildschichten hervorgerufen wurden, erzeugten eine Wahrnehmung immaterieller Scheinformen und Scheinbewegungen. Die konkreten und konstruktiven Tendenzen der europäischen Nach­kriegskunst haben sich zur Op Art und Kinetik weiterentwickelt. Helga Philipp hat ab 1960 ihren Beitrag dazu geleistet. Darüber hinaus hat sie nicht nur Bewegungsphänomene, sondern auch Lichtphänomene weiterentwickelt und somit die Wahrnehmungskunst in eine neue Form von Raumkunst verwandelt. Die Nähe zu den metrischen Filmen eines Peter Kubelka und Kurt Kren aus den 1950er Jahren gehören sicherlich zu den Voraussetzungen, mit denen Helga Philipp das Bild vom Wahrnehmungsraum zum Denkraum vorangetrieben hat. Philipp hat bereits Formen der Minimal Art und Konzeptkunst antizipiert. Damit ist ihr mehr gelungen, als die neokonstruktiven Tendenzen in Europa und die amerikanische Hard-Edge-Malerei der späten 1950er Jahre um Ellsworth Kelly und Kenneth Noland weiterzuentwickeln und weiterzugeben. Als Lehrerin an der Hochschule für angewandte Kunst hat sie über Jahrzehnte viele StudentInnen ausgebildet, welche diese Strömungen mit Erfolg weitertradierten: Gerwald Rockenschaub, Brigitte Kowanz, Andrea Sodomka und Heimo Zobernig und deren Schülerinnen wie Esther Stocker und Barbara Höller. Philipp hat mit ihrer Kunst die Zukunft einer Tradition begründet. Das macht ihr Werk so geschichtsmächtig.

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1  Alexander Foitl, Fritz Hartlauer, Ausst.-Kat., Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, 4.7.-15.8.1995, Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, 1995.

2  Die kosmopolitsche Vereinigung Abstraction-Création wurde am 15. Februar 1931 auf Ini­tiative des belgischen Malers, Bildhauers und Architekten Georges Vantongerloo in Paris gegründet und bestand bis 1937. Weitere Gründungsmitglieder – von denen viele zuvor der Gruppe Cercle et Carré angehörten – waren Theo van Doesburg, Antoine Pevsner, Naum Gabo und Auguste Herbin. Ziel war es, ein Forum für die Abstrakte Kunst zu schaffen. Die Gruppe wurde zum geistigen und organisatorischen Zentrum und Sammelpunkt für die Anliegen der Vertreter der konkreten, konstruktivistischen und geometrischen Kunstrichtungen.

3  Der Begriff Konkrete Kunst wurde 1924 von Theo van Doesburg eingeführt und 1930 programmatisch festgelegt in dem Gründungs­manifest der Gruppe Art concret für eine Kunst, die im Idealfall auf mathematisch-geometrischen Grundlagen beruht. Vertreter der Konkreten Kunst waren u.a. Max Bill, Joseph Albers, Almir Ma­vignier und Friedrich Vordemberge-Gildewart.

4  Im Jahr 1955 kuratierte K.G. Pontus Hultén die wegweisende Ausstellung Le Movement für die Galerie Denise René mit Arbeiten von Agam, Bury, Calder, Duchamp, Jacobsen, Soto, Tinguely und Vasarely, in deren Zusammenhang er seinen Text „Petits moments des arts cinétiques“ veröffentlichte.

5  László Moholy-Nagy, von material zu architek­tur, 1929, Reprint Mainz/Berlin 1968.

6  Jesús Rafael Soto produzierte kinetische Kunst, indem er auf der zweidimensionalen Fläche die Illusion von räumlicher Bewegung schuf. Dafür ist insbesondere exemplarisch seine Arbeit Deux relations virtuelles aus dem Jahr 1967.

7  Siehe dazu insbesondere: Peter Peer / Peter Weibel, Otto Beckmann. Zwischen Mystik und Kalkül, Ausst. Kat., Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, Köln, 2008.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

8  11/65 Bild Helga Philipp, 16 mm, 27 m 2’29”, s/w, ohne Ton. Aufnahmen eines Siebdruckes von Helga Philipp

9  Die Zusammenarbeit von Marc Adrian und Kurt Kren dauerte von 1957-1958, es entstanden drei gemeinsame Filme: Black Movie, 1957,   16 mm, s/w, Farbe, ohne Ton, 3’18”; 1. Mai 1958, 1958, 16 mm, s/w, stumm, 2’45”; Wo-da-vor-bei, 1958, 16 mm, s/w, ohne Ton, 70”