Beobachtungsobjekte im Wandel: Helga Philipp retrospektiv

Eugen Gomringer

Es ist sicherlich kein scharfer Übergang festzustellen, von wann an in der Konstruktiv-Konkreten Kunst die „Verantwortung für die Qualität des Geschehens“ in der Triade Künstler-Werk-Beobachter so eindeutig auf den letzteren übertragen wurde, wie das Helga Philipp in einem Interview mit Helga Okunev im Jahr 1991 in Erinnerung ruft. Wobei nicht unerheblich ist, dass sie von einem Dialog Objekt-Betrachter spricht und von ihm eine Antwort bzw. eine Reaktion auf ihre versammelte Vorgabe, welche das Objekt ausmacht, fordert. Die Zuspitzung auf einen Beobachter, der sich einem klug gefertigten System absichtlich oder unfreiwillig stellt, schließt zwar gesamtgesellschaftliche Entwicklungen nicht aus, spricht ihn aber doch vornehmlich auf seine persönliche Sinnesorganisation an. Ein früher Zeitpunkt des Eintretens solcher dualer Kommunikation hat legendäre Züge. Es war 1933, als der Emigrant Josef Albers amerikanischen Boden betrat und gleich mit einem „open eyes!“ empfangen wurde. Er sollte das programmhafte Wort selbst immer und immer wieder anwenden, wenn die Beobachter seiner Werke und Testverfahren zu Probanden wurden. Recht lange jedoch wurde durch eine Harmonie erstrebende Konkrete Kunst eine neue Gesellschaft angesprochen- Richard Paul Lohse zum Beispiel setzte Modulares und Serielles in Beziehung zu gesellschaftlichen Vorgängen und auch die Funktion des Künstlers war bestimmt und war auf mehr als auf einen Dialog ausgerichtet. Es mögen aber tatsachlich die Beobachtungsobjekte und die oft apparatehaften Einrichtungen – Vorwegnahmen des PC? – der Op-Art gewesen sein, die einen Beobachter anstelle des beschaulicheren Betrachters erforderten bzw. speziell in die Funktion des Verantwortlichen setzten: seine irgendwie geartete Reaktionsfähigkeit wurde ausschlaggebend. Trotz des Rückzugs des Künstlers auf sein System, das sich heute drastisch steigern kann bis zur japanischen Verweigerung, waren nun aber dennoch differenzierte Methoden alsbald erkennbar und statt Handschriften wurden konstruktiv-materielle Vorgaben und redundante Vorlieben lesbar. So minimal konnte fast kein Objekt sein, es wurde von Experten und Kunstfreunden mühelos einem bestimmten Autor zugeordnet. Die Intensität, mit welcher Helga Philipp das Verhältnis Bild-Beschauer schon seit ihrer Ausstellung in Graz 1974, die bereits auf über zehn Jahre Arbeit an Beobachtungsobjekten Auskunft gab, zu verzahnen gedachte, wird in Phasen sichtbar und hat bis in die jüngste Zeit nichts an Energie und Intuition eingebüßt. Ihr längeres Statement im Grazer Katalog in wechselnden Kurz- und Langzeilen von genetischer Visualität, ist ein Dokument dieser Einstellung zum Dialog Bild – Beschauer. Und mehr: Ihre Zeilen, die bereits 1963 entstanden sind, sind ein Programm, das sie seither immer wieder eingelöst hat. Programmpunkte waren u. a.

„existenz des bildes durch den beschauer. existenz des beschauers durch das bild. bewegung im raum im bild. bewegung im raum und die des beschauers durch das bild. bewegung des bildes durch den beschauer und den raum. veränderung des bildes durch veränderung des lichtes. veränderung des bildes durch veränderung des beschauers.“

Darauf ist bei jeder Betrachtung des Werks von Helga Philipp immer wieder zurückzukommen. Ähnlich äußerte sie sich denn auch in dem oben erwähnten Kurzinterview von 1991: „Unverändert mein Anliegen des Dialoges Objekt-Betrachter. Ich erwarte, dass er durch seinen Bezug, seine Bewegung die Bereitschaft seine Wahrnehmung zu verändern, sein Zulassen von Irritation der Grundbefindlichkeit, Verantwortung übernimmt für die Qualität des Geschehens.“ So unverändert Helga Philipp ihr Anliegen sieht, passt sie dennoch nicht in die Vorstellung von Weisheit wie sie Gottfried Benn von den Weisen wusste: sie seien entwicklungsfremd. Sie ist Künstlerin, und ihre Beobachtungsobjekte sind der Wandlung unterworfen. Die Identität ihrer Werke bis 1970 ist trotz der Vielfalt von Materialien und Destabilisierungsmöglichkeiten, durch einen gewissen Formenkanon gegeben. In der Mehrheit bestehen die Beobachtungsobjekte aus Systemen runder Formen. Ein Reifenobjekt bringt den Realitätsbezug ein, was erst recht für den waltenden Oberbegriff der Rundheit zeugt. Mit einer runden Grundform wird der Beobachter leicht ins Kreisen gebracht, was zur Zeit der Objekt-Kinetik angestrebt wurde. Als Einzelform – tellerartig – ist die runde Form ein Kreisen in sich selbst. Wer da damals von Kosmologie sprach, fiel der Künstlerin ins Wort: Bewegung im Raum. Der „Programmpunkt „Veränderung des Bildes durch Veränderung des Lichts“ bildet im Gesamtwerk bis heute, und es dürfte auch weiterhin so zu verstehen sein, eine zentrale Thematik. Dabei sind alle eingesetzten Mittel für Helga Philipp dazu da, um vielfältige Möglichkeiten des Sehens zu begünstigen. Sie rechnet mit der Bewegung des Beobachters vor dem Bild, mit dem wechselnden Standpunkt. Sie bietet an die optische Dreidimensionalität der Komposition, die strukturierte Oberfläche, das variable Licht der räumlichen Gegebenheit. Dieter Bogner ist in seinem Vorwort zum Katalog 1991 den Bildkonzepten von Helga Philipp akribisch nachgegangen und hat den Charakter der Bilder herausgearbeitet. Der metallisch „kühle“ Schimmer der Bilder entsteht durch den Kontrast der zwei gegensätzlichen Komponenten des schwarzen Graphits einerseits und des pulverisierten Aluminiumstaubs andererseits. Dadurch entsteht ein harter Hell-Dunkel-Kontrast, der jedoch die Abstufung feinster Grauwerte ermöglicht. Was durch wechselnde Lichtsituationen bei einem einzigen Bild im Zusammenwirken der Machart des Bildes mit den wechselnden Standpunkten des Beobachters als Qualität des Geschehens erzielt werden kann, ist erstaunlich. Es entstehen, erwirkt durch die Begegnung mit einem einzigen Bild, mehrere Bilder. Dadurch wird die Fixierung des Beobachters auf eine quasi a priori vorgesehene Zahl von Begegnungsmöglichkeiten durch die Wahrnehmung aufgehoben, das heißt auf unbestimmbar viele Akte erweitert. Es lockt sehr, an dieser Stelle ein weiteres Mal an den Meister der „open eyes“ zu erinnern, in dessen Kunst-Vision niemand qualifizierter sich einfügen lässt als Helga Philipp, gerade wenn Albers das Maß der Kunst in der Proportion von Aufwand und Wirkung sieht, aber auch da, wo er den Inhalt der Kunst biologisch festhält: „Visuelle Formulierung unserer Reaktion auf das Leben.“ Es fällt auf, das Helga Philipp zu den Künstlern gehört, die den Begriff „Kunst“ für ihren Gegenstandsbereich eigentlich nicht mehr benötigen. Ihre Tätigkeit ist auf alle Fälle biologischen Akten inhärent. Beobachtungsobjekte im Wandel soll aber auch hinsichtlich Entwicklungen in der Beschaffenheit und in der Konzeption verstanden sein. Die Op-Art-Objekte der Sechzigerjahre sind einem kunstgeschichtlichen Moment zugehörig. Die Bildtypen der letzten zehn Jahre sind formal so reduziert, dass sie zur Bildung von Konstellation auf diese und jene Weise, räumlich, zeitlich, geeignet sind. Dazu war eine Überwindung der geometrischen Formen nicht notwendig. Die Entwicklung der Beobachtungsobjekte lief vielmehr nebst der Konstellationenbildung, der Umwandlungen räumlicher Vorstellungen, in Richtung Reihung und Überlagerung, wozu sich ebenfalls ein einfaches Formenrepertoire herausbildete. Es ist nicht zu übersehen, dass sich in der Konstruktiv-Konkreten Kunst der neue Typus der fortgesetzten Reihung herauskristallisierte: Die Reihung im einzelnen Bild, aber bedeutender in Streifen, Bändern oder Stelen, wobei sich die Reihen oder Streifen über den Bildrand hinaus fortsetzen und nach der Raumarchitektur streben. Helga Philipp hat diese Kunstform des unendlichen Satzes oder der transitiven natürlichen Vorgänge, schon in den frühen Sechzigerjahren entdeckt, wie Friedrich Achleitner in einem der jüngsten Kataloge konstatiert. Zu einer gemäßen Realisierung als Domino-Prinzip in gegebenen räumlichen Verhältnissen, die nicht einmal besonders geeignet waren, kam es dieses Jahr in Wien. Achleitner: „Das Thema ‘Evolution‘ mit einem losen Bezug zu ‘Pharmazie‘ und ‘Erdgeschichte‘ konnte für Helga Philipp von Vornherein nur in einer analogen Form behandelt werden, das heißt, es wurde auf alle abbildenden, symbolischen oder gar illustrativen Formen verzichtet. Das Kunstwerk erlaubt aber durch seine Bausteine, ihre Variation und Kombination Analogien zu Baugesetzen der Natur, obwohl man diese nicht mit der Natur der Kunst und ihren Gesetzen verwechseln sollte. Trotzdem ist ein wesentliches Moment des Konzepts, ein Spiel von Regel und Zufall, was eben auch als Analogie zu Naturgesetzen gelesen werden kann.“ Vielleicht liegt in solchen Ansätzen, wie einem, der durch Helga Philipp in der gegenwärtigen Entwicklung vielversprechend gelungen ist, die Neubewertung von Beobachtungsorten in Verbindung zu Beobachtungsobjekten. Gewiss ist, das Helga Philipp die Problematik der positiven Destabilisierung mit überzeugenden Ergebnissen bereichert. „Wegschauen ist möglich“, hat sie einmal gesagt. Gerade bei ihr nicht!

 

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