Raum in der Malerei

Katrin Draxl

Parallel zur Entstehung des Paravents beschäftigt sich Philipp eingehend mit dem Prinzip der perzeptiven Inversion, dem optischen Umspringen der Wahrneh­mung bei Formen, die mehrere Lesarten zulassen. 1987 bis 1991 experimentiert sie mit der Form des Quaders, der als räumliche Struktur oder als in der Fläche verhaftet gelesen werden kann. Motivisch kann er als Grundelement funktionieren oder durch Aneinanderreihung die gesamte Bildfläche ausfüllen. Wahrnehmungs­psychologische Phänomene, bekannt durch die Figur des Necker-Würfels1 oder die Schrödersche Treppe2, fließen in diese Arbeiten ein, in denen sich auch eine Reduk­tion der Formen auf das Wesentliche abzeichnet.
Einfache geometrische Grundformen wie gleichschenkelige Dreiecke und Quadrate setzt die Künstlerin, ähnlich wie bei „Domino“, zu unterschiedlichen Kombinationen zusammen oder variiert sie, indem sie Dreiecke über die Form des Trapezes in ein Rechteck überführt. Dabei kommt der bereits von ihren kinetischen Objekten bekannte optische Eindruck einer in den Raum gekippten oder gedrehten Fläche zum Tragen. Die geometrischen Formen sind monochrom gehalten, teilweise bilden sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Oberflächenstruktur starke Kontraste zu den klaren Umrisslinien.
Nach Fertigstellung des Paravents im Jahr 1989 entsteht eine weitere Gruppe großformatiger Arbeiten, in denen Philipp das Linienmotiv aus „Domino“ aufgreift. Auch hier bilden mehrere quadratische Leinwände mit variierenden Grundmotiven Einheiten, die unterschiedlich miteinander kombiniert werden können. So entstehen ganze Linienbänder, die sich in einer oder mehreren Schlingen oder Mäandern über die gesamte Bildfläche ziehen. In einigen Arbeiten entsteht durch die farbliche Abstufung der optische Eindruck einer Treppe, als würden die Linienbänder in den Raum treten oder zurückweichen. Anhand einer dieser Arbeiten demonstriert Philipp in Zusammenarbeit mit dem Künstler Thomas Freiler3, wie sich das Ausse­hen ihrer Arbeiten aufgrund der strukturierten Oberfläche bei unterschiedlichem Lichteinfall verändern kann. Sie schreibt dazu: „In der dynamischen Beziehung wechselnder Standpunkte des Betrachters, optischer Dreidimensionalität der Komposition, strukturierter Oberfläche, variablen Lichtes ergeben sich vielfältige Möglichkeiten des Sehens.“4
In einer weiteren Gruppe von Malereien werden horizontale Farbstreifen von dunkel nach hell abgestuft. Sie bilden strenge orthogonale Kompositionen, wo­durch die zweidimensionale Bildfläche betont wird. Sowohl durch kompositorische Akzente, durch das Erzeugen von starken Hell-Dunkel-Kontrasten als auch durch die mittels Farbauftrag stark strukturierte Oberfläche und das reflektierende Licht wird die Bildfläche selbst in Bewegung versetzt. Wie schon bei den Malereien mit anderen Motiven findet hier eine weitere Vereinfachung der Form, eine Reduktion auf das Wesentliche statt. In einer Reihe großformatiger Arbeiten schließlich ist der Farbton, nicht mehr die geometrische Form, das Grundelement, welches die Komposition bestimmt.
Neben der Tendenz zur Vereinfachung der Formen und dem Fokus auf die Farbigkeit beschäftigt sich Philipp ab 1988 aber auch mit der Weiterentwicklung der Linie als Grundmotiv. Nicht mehr in horizontaler, sondern vertikaler Ausrichtung ordnet sie die Farbstreifen auf der Leinwand an. In einer achtteiligen Arbeit setzt sie die Prinzipien der Reihe und der Variation um, die in Kombination mit dem grossen Format den Betrachter zu einem Abschreiten der Bildreihe herausfordern. Durch den Hell-Dunkel-Kontrast der Farbabstufungen entsteht gleichzeitig die Illu­sion von Räumlichkeit, welche die Bilder abwechselnd vor- oder zurückgewölbt erscheinen lässt.
Ab den im Jahr 1985 begonnenen Arbeiten in Öl auf Leinwand oder Holz ­verändert sich das Format von Philipps Werken. Zumeist aus mehreren Teilen zu­samme­ngesetzt, erreichen die Malereien Maße von bis zu zwei mal zehn Metern. Mit dem Großformat ändern sich auch die Voraussetzungen der Bildbetrachtung, die Wahrnehmung muss auf große Dimensionen eingestellt werden und geht meist mit einem notwendigen Wechsel des Betrachterstandpunktes vor der Arbeit einher.
Einige amerikanische Maler der Moderne, darunter auch Mark Rothko oder Bar­nett Newman, haben ebenfalls mit großformatigen Bildträgern gearbeitet. Während Newman den Betrachter in ein Farbkontinuum hüllt, welches vor der Bildfläche entsteht, ziehen die Werke Rothkos den Betrachter in die Tiefe. Newmans und Rothkos Werke werden von ihrer Farbigkeit bestimmt, die an der Illusion von Räumlichkeit fundamental mitwirkt. Philipp hingegen schafft mit ihren Arbeiten eine Art Raum-Zeit für den Betrachter, wobei nicht die Strahlkraft der Farbe ausschlaggebend ist, sondern das plastische Potenzial des Hell-Dunkel-Kontrasts von Grafit- und Aluminiumpigment in Verbindung mit einfachen konstruktiven Linien- und Flächenstrukturen, die dem Betrachter unterschiedliche Wahrnehmungs­möglichkeiten anbieten.
In den Jahren 1989 und 1991 präsentiert Helga Philipp ihre neuen Arbeiten in der Villa in Ternitz der Öffentlichkeit.

 

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1  Schriftlich erwähnt wurde dieses Phänomen erstmals in der ersten Hälfte des 19. Jahr­hunderts von Louis Albert Necker, nach dem auch der Necker-Würfel benannt ist. Einer der Künstler, die sich dieses Phänomen zunutze gemacht haben, ist Maurits Cornelis Escher, dessen Arbeiten Helga Philipp nach Aussage ihrer Tochter interessiert haben.

2  Die sog. Schrödersche Treppe stellt eine Vari­ante der perzeptiven Inversion dar, bei der der Kontext einer geometrischen Figur für dessen Lesart relevant ist.

 

 

 

 

3  Thomas Freiler studierte bei Helga Philipp.

 

4  Kunstraum Buchberg (Hrsg.): Neue Arbeiten. Ausst.Kat., Ternitz 1991.